100 Jahre Libanon: Die Zukunft ist jung

von Christof Beckmann

Dienstag, 01.09.2020

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Pater Marc-Stephan Giese SJ, Foto: privat, Collage: KIP

Vor genau 100 Jahren entstand mit der Gründung des neuen Staates Großlibanon ein außergewöhnliches Experiment. Dass die Jugend des Libanon jetzt auf die Straße geht, ist ein Zeichen der Hoffnung, findet Jesuitenpater Marc-Stephan Giese...

INFO: Auch viele kirchliche Einrichtungen waren betroffen, als am 4. August eine riesige Explosion die Stadt Beirut erschütterte und beinahe 300.000 Tausend Menschen obdachlos machte. Die Stadt wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Durch die Detonation in einer offenbar ungesicherten Lagerhalle im Hafen der Hauptstadt wurden auch mehrere Einrichtungen der Jesuiten im Libanon schwer beschädigt. Dort leben 43 Jesuiten, die in der Bildungs-, Pastoral- und Sozialarbeit tätig sind. Betroffen wurden das Krankenhaus Hôtel-Dieu de France, die Universität Saint-Joseph, die Schule Saint-Grégoire und das Regionalbüro des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Hilfe kommt jetzt aus Deutschland: Die Jesuiten der Deutschen Provinz unterstützen mit einer halben Million Euro die Not- und Wiederaufbauhilfe des Ordens im Libanon.
Weitere Spenden für die Not- und Wiederaufbauhilfe im Libanon nimmt die Jesuitenmission in Nürnberg als deutsches Hilfswerk der Jesuiten weltweit entgegen: Spendenkonto Jesuitenmission, IBAN: DE61 7509 0300 0005 1155 82, Stichwort: X48510 Libanon.
Weitere Hilfskonten: Caritas international, Freiburg, Stichwort: „Explosion Beirut“, IBAN: DE88 6602 0500 0202 0202 02, Bank für Sozialwirtschaft Karlsruhe, BIC: BFSWDE33KRL oder online unter: https://www.caritas-international.de/spenden/; Diakonie Katastrophenhilfe, Berlin, IBAN: DE68 5206 0410 0000 5025 02, Evangelische Bank eG, BIC GENODEF1EK1, oder online unter www.diakonie-katastrophenhilfe.de/spenden/

1.9.2020 - 100 Jahre Libanon: Das Gebiet des heutigen Libanon – eine Wiege der frühen Zivilisation – gilt als biblisches „Land der Zedern“ und Heimat der Phönizier. Reiche kamen und gingen: Seit 63 v. Chr. war er Teil der römischen Provinz Syria und gehörte zum Oströmischen Reich der Byzantiner. Sie wurden 636 von den muslimischen Arabern besiegt und bis ins 11. Jahrhundert regierten die Kalifen der Umayyaden, Abbasiden und die 1071 von den Seldschuken vertriebenen Fatimiden. Die Kreuzfahrer errichteten nach dem 1. Kreuzzug 1109 die Grafschaft Tripolis, wurden um 1291 von den Mamelucken geschlagen und nach dem Untergang ihres Reiches kam der Libanon mit Syrien 1517 unter die Herrschaft der Osmanen. Christliche und jüdische Bevölkerungsteile konnten sich weitgehend behaupten, übernahmen Arabisch als Umgangs- und Bildungssprache.

Schon vor dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches und der Gründung der heutigen Türkei einigten sich die europäischen Großmächte über ihre Einflusszonen: Am 1. September 1920 proklamierte der französische General Henri Gouraud die Errichtung des Staates Großlibanon in seinen heutigen Grenzen, Beirut wurde Hauptstadt. Großbritannien erhielt die Völkerbundmandate für den heutigen Irak sowie für Palästina einschließlich der Gebiete östlich des Jordanflusses. Die Franzosen, die sich als Schutzmacht der Orientchristen verstanden, übernahmen nach der Konferenz von San Remo 1920 das Mandat für Syrien und Libanon. Die Verfassung von 1926 bestimmte ein ausgeklügeltes Proporzsystem der Religionen für Regierung, Präsident und Ministerpräsident und im neuen Staat Großlibanon, der 1943 als Republik Libanon unabhängig wurde, behielten Christen eine knappe Bevölkerungsmehrheit von 52 Prozent. Brachte die Proporzdemokratie in den ersten Jahrzehnten eine gewisse Stabilität, kam es bald zu wechselnden Allianzen, die Spaltungen vertieften sich. Anteil und Gewicht der vor allem maronitischen Christen sank, das Zahlenverhältnis der 18 anerkannten Konfessionen, sechs muslimische und zwölf christliche, änderte sich – eine Entwicklung, die in der Geschichte des Libanon zunehmend eine eskalierende Rolle spielte. Die Konflikte zwischen Drusen, Christen, Sunniten und Schiiten entluden sich im 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg (1975-1990).

Die Reformunfähigkeit zwischen Klientelismus und Verteilungsungerechtigkeit brachte das Land der Zedern an den Rand eines vollständigen Zusammenbruchs. Monokonfessionelle politische Parteien unter Leitung familiärer Clans wurden zu exklusiven Vertretungen ihrer jeweiligen Religionsgruppe. Dazu kamen externe Einflüsse, etwa aus Syrien und Iran, der Schutzmacht der schiitischen Hisbollah-Miliz, die weite Teile des Landes kontrolliert und zum Staat im Staate wurde. Seit März 2020 ist der Libanon zahlungsunfähig. Corona-Beschränkungen legten die Wirtschaft zusätzlich lahm. Mit mehr als 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, 40 Prozent Arbeitslosen und einer Währung im freien Fall beschleunigte die Explosion den Kollaps. Zu einer Staatsverschuldung von rund 90 Milliarden US-Dollar werden bis zu 15 Milliarden für den Wiederaufbau Beiruts hinzukommen - ein Fanal für das Land, das eine Schlüsselrolle im so instabilen und friedlosen Nahen Osten spielt. Seit dem Herbst 2019 gehen die Libanesen in Massen und mit ausdrücklicher Unterstützung der Kirchenvertreter gegen die überholte Ordnung auf die Straße, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres musste eine Regierung zurücktreten.

Unser Gesprächspartner Pater Marc-Stephan Giese SJ: Dass die Jugend des Libanon jetzt auf die Straße geht, sei ein Zeichen der Hoffnung, findet der Jesuitenpater, der die Entwicklungen dort beobachtet. Er erlebte die unmittelbaren Folgen der Explosion in Beirut, kommentiert die Ereignisse und sieht jetzt auch eine Chance in der Krise – für ihn „die historische Rolle des Libanon“: „Ein Ort zu sein, wo Menschen mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen zusammenleben und zusammen Zukunft gestalten. Selbst, wenn keine Hoffnung zu sehen ist: Junge Menschen wollen Frieden, die jungen Menschen wollen zusammenleben, die wollen sicher leben in einer Gesellschaft ohne Korruption, in einer freien Gesellschaft.“

Selbst wenn die alten Machteliten sich bereits wieder gegenseitig blockierten: Pater Giese zählt auf die Jugend. Sie räume auf, baue auf, wolle „einen neuen, einen anderen Libanon“, so der Jesuit: „Und ich glaube und ich hoffe, dass wir als Kirche, dass wir als Jesuitenorden, da auch mit dabei sind - mit unseren Schulen, mit unserer Universität, der Josefs-Universität in Beirut.“ Wenn es dort gelinge, dann gelinge es anderswo auch, so seine Hoffnung für den größeren Umkreis, in Syrien, Jordanien, im Heiligen Land, in Israel, Palästina: „Ja ich glaube, der Libanon kann so was wie ein Modellland sein für eine friedliche und gemeinsame Zukunft des Nahen Ostens. Ob die politischen Eliten es jetzt verstanden haben oder nicht - das wird die Zeit zeigen. Aber ich bin vorsichtig, aber doch zuversichtlich“.

Er hoffe, dass die junge Generation, die der ganzen Welt gezeigt habe, dass politischer Protest eben auch mit Musik, Tanz, Kunst und positiven Elementen geschehen kann, einen „neuen, einen gerechteren, einen freieren Libanon aufbauen“ könne, sagte Pater Marc-Stephan Giese der Katholischen Kirchenredaktion: „Aber jeder Blick in die Zukunft - hier aus dem Nahen Osten und überall in der Welt: Es braucht viel dazu, viel Mut, viel Courage, viel Kraft, viel Kampf, auch in gewisser Weise und vor allen Dingen: Es braucht Gottes Gnade dazu. Immer, wenn wir hier auf Arabisch etwas über die Zukunft aussagen, sagen wir in „Inschallah / Wenn Gott es will“. Aber da habe ich ein gutes Gefühl, dass Gott diesen Frieden und diese Versöhnung, und dieses Vorankommen für den Libanon und für den ganzen Nahen Osten will.“

Kontakt: Pater Marc-Stephan Giese SJ stammt aus der Kirchengemeinde St. Ludwig in Celle. Er studierte Philosophie und Theologie in Frankfurt-Sankt Georgen und Cochabamba (Bolivien) und trat 2004 in die Gesellschaft Jesu ein. 2010 wurde er zum Priester geweiht. Er hat in der Jugendarbeit in Nürnberg gearbeitet und war Lehrer und Seelsorger am Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg und Kaplan in Siegburg. Seit 2014 war er Kaplan in der Pfarrei Sancta Eugenia in Stockholm und in der Flüchtlingsarbeit tätig. Nach seinem Tertiat in Bolivien bereitete er sich 2018 auf seine neuen Aufgaben in der Nahostprovinz vor. Er lebt und arbeitet seit 2019 im Pastoralzentrum der Jesuiten in Amman/Jordanien.
Adresse: P. Marc-Stephan Giese SJ, Ar-Razi Street 43, Jabal-Hussein, Amman, Jordan, E-Mail: marc-stephan.giese(at)jesuiten.org, phone/whatsapp +962 79 780-8717, skype: ms.giese.sj, Youtube: https://www.youtube.com/c/FrMarcStephanGieseSJ

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