Das Böse und der blinde Gehorsam
Dienstag, 23.08.2016
Von "unschuldigen Opfern" ist in letzter Zeit oft zu hören und zu lesen. Und es stellt sich die Frage: Wie schafft man es, dass Menschen bereit sind, anderen Menschen, die sie gar nicht kennen, Gewalt anzutun?
Das hat der Sozialpsychologe Stanley Milgram untersucht. Er wies in seinem berühmt gewordenen Experiment aus dem Jahr 1962 nach, dass drei Viertel der Durchschnittsbevölkerung durch eine pseudowissenschaftliche Autorität dazu gebracht werden können, einen ihnen unbekannten Menschen zu misshandeln.
Um Gehorsam auf einfache Weise zu untersuchen, schafft er eine Situation, in der eine Person einer anderen eine Handlung befiehlt, und notiert, wann dem Befehl Folge geleistet wird und wann nicht. Um die Gehorsamsstärke und die Bedingungen zu untersuchen, unter denen diese Stärke variiert, stellt er einen Bezug zu einer starken Gegenkraft her, die in Richtung Ungehorsam wirkt: dem moralischen Gebot, dass man einer hilflosen Person, die für einen selbst weder schädlich noch bedrohlich ist, keine Schmerzen zufügen soll. Die Kernfrage des Experiments ist demnach, wie lange die Versuchsperson sich den Anordnungen des Versuchsleiters fügt, bevor sie weiteren Gehorsam verweigert.
Am Tag des Experiments betreten zwei Personen ein elegantes Psychologielabor der Yale University. Die eine wird vom Versuchsleiter zum „Lehrer“, die andere zum „Schüler“ bestimmt. Der Versuchsleiter erklärt beiden, dass die Untersuchung sich mit der Auswirkung von Strafe auf das Lernen befasse. Der Schüler wird nun in einem Nebenraum an einen Stuhl gebunden. An seinem Handgelenk befestigt man eine Elektrode samt Elektrodensalbe, „um Blasen und Verbrennungen zu vermeiden“. Die Versuchsperson nimmt als Lehrer vor einem Schockgenerator Platz und erhält den Auftrag, mit dem Schüler einen Lerntest durchzuführen. Jedes Mal, wenn der Schüler eine falsche Antwort gibt, soll die Versuchsperson ihm einen elektrischen Schock verabreichen, beginnend bei 15 Volt. Bei jeder weiteren falschen Antwort soll sie die Schockstärke um 15 Volt steigern bis zu einer Stärke von 450 Volt. Unter den 30 Schaltern des Schockgenerators befinden sich Aufschriften, die von „leichtem Schock“ bis zu „bedrohlichem Schock“ reichen. Selbstverständlich erhält der „Schüler“ keinen wirklichen Schock. Doch um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, erklärt der Versuchsleiter auf dessen Nachfragen, die Schocks könnten äußerst schmerzhaft sein, hätten jedoch keine bleibende Gewebeschädigung zur Folge.
Auf Zweifel oder Fragen der Versuchsperson während des Experiments reagiert der Versuchsleiter mit einer Reihe standardisierter Bemerkungen: „Bitte, fahren Sie fort! Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen! Sie müssen unbedingt weitermachen!“ In einer Voruntersuchung ohne jede Rückmeldung des Schülers verabreicht nahezu jede Versuchsperson die geforderten Schocks bis zum Ende der Skala.
Dieses und weitere Experimente zeigen, dass blinder Gehorsam und falsche Autoritätsgläubigkeit Menschen dazu bringen, anderen Gewalt anzutun.
Mehr über die Experimente lesen Sie hier im Ärzteblatt.