Stolpersteine: Eduard Müller

von Christof Beckmann

Montag, 18.11.2024

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Mehr als 110.000 Stolpersteine wurden zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus verlegt, über 17.000 zählt das „Projekt gegen das Vergessen“ in NRW. Und man muss auch aufpassen, dass sie dort liegen bleiben. Um dem Vergessen keine Chance zu geben …

INFO: Der Lebensweg von Eduard Müller war nicht vorzeichnet: Er wurde geboren am 20. August 1911 in Neumünster, kam aus armen Verhältnissen. Der Vater hatte die Familie mit sieben Kindern früh verlassen, die Mutter stammte aus dem katholischen Eichsfeld und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten als Waschfrau und Stundenhilfe durch. Eduard war der jüngste, besucht den 1907 von Elisabethschwestern (Graue Schwestern) gegründeten katholischen Kindergarten in Neumünster, wird Messdiener und machte nach der Volksschule eine Lehre als Schreiner. In der Weltwirtschaftskrise wird er arbeitslos, engagiert sich stärker in der katholischen Jugendbewegung und schließt sich dem katholischen Gesellenverein Adolph Kolpings an. Er ist als Führer der Sturmschar, Gruppenleiter in der DJK-Sportjugend und auf vielen Fahrten mit der Pfarrjugend unterwegs.

1927 kommt Dr. Bernhard Schräder, später Weihbischof in Schwerin, als Kaplan an die Gemeinde und fördert Müller. Er sammelt Geld bei Gemeindemitgliedern, um ihm ein Studium zu ermöglichen. Den Wunsch, Priester zu werden, muss Müller erst über den mühsamen Weg privater Lateinstunden und Spätberufenenkonvikt verwirklichen: Um das Abitur zu erwerben, trat er mit 19 Jahren zunächst 1931 ins Studienheim St. Klemens in Belecke ein, das Juvenat des Clemensheimes in Bad Driburg. Zum 20.03.1932 zog Müller ins Clementinum Bad Driburg um und litt dort schwer unter seiner Armut: Für Schulgeld, Wohnung und Beköstigung muss er sich verschulden und geht seinem Rektor aus dem Weg, da er dauernd Rückstände hat.

Doch aus Neumünster fördert ihn Kaplan Bernhard Schräder weiter, besorgt Geldgeber für seine Schulbildung. Eduard Müller schafft das Abitur durch Überspringen einer Klasse statt in sechs in gut vier Jahren. Zu Ostern 1935 besteht Müller mit 25 Mitschülern die Reifeprüfung vor der Prüfungskommission des Gymnasium Paulinum in Münster, mit dem das Clementinum damals kooperierte mit Gesamtnote Gut. Im April 1935 wird Müller an der Universität Münster zum Theologiestudium immatrikuliert. Seiner Gemeinde bleibt er verbunden: In den Semesterferien 1936 bis 1939 unternimmt Müller lange Reisen mit Jugendlichen aus der Neumünsteraner Pfarrgemeinde und ist begeisterter Fotograph. Die erste Fahrt führt als Radtour 2400 km durch Westdeutschland, 1937 geht es in den Sommerferien per Anhalter nach Rom, 1938 nach Jugoslawien und 1939 über Rom bis nach Libyen.

Nach dem Studienabschluss tritt Eduard Müller ins Priesterseminar Osnabrück ein und wird am 25. Juli 1940 von Bischof Dr. Wilhelm Berning im Dom zu Osnabrück zum Priester geweiht. Am 28. Juli 1940 fährt er zur Heimatprimiz in Neumünster, wo ihm die arme Gemeinde einen Kelch und zwei Messgewänder schenkt. Noch im gleichen Jahr kommt er nach Lübeck. Hier tritt er am 19. September 1940 gemeinsam mit Johannes Prassek (32, Vikar) und Hermann Lange (31, Kaplan) seinen Dienst an der Herz-Jesu-Kirche an. Müller ist „Adjunkt", der im Range dritten Vikar der Pfarrei. Pfarrer Dr. Msgr. Albert Bültel, pastor primarius in Lübeck, fördert ihn sehr. Kirchliche Vereinsarbeit ist unter den Nationalsozialisten verboten, doch betreut die Kolpinggruppe, vor allem aber mehrere Kinder- und Jugendgruppen in sogenannten „Glaubensstunden". Weil mit der Gestapo immer zu rechnen ist, steht immer ein Diaprojektor mit Bildern seiner Romreise bereit, um einen harmlosen Reisebericht vorzuspielen. Mit seinen Mitbrüdern sorgt er sich bei Luftalarm um die Überbringung der Kranken aus dem gegenüberliegenden Marienhaus in den Luftschutzkeller. Besonders bei der Jugend und bei den einfachen Leuten war Müller beliebt. Er legte praktisch mit Hand an, wenn ein Handwerker gebraucht wurde. Seine erfolgreiche Jugendarbeit veranlasste sogar die HJ, die Hitlerjugend, ihn um Mitarbeit zu bitten und ihn anzuwerben. Er aber blieb bei seiner Gemeindejugend. Müller sah sich als „Soldat“ des „Königs“ Christus. In einem Brief an den Bischof schrieb er kurz vor der Hinrichtung: „Knapp zwei Jahre durfte ich als Priester ihrer Diözese helfen am Aufbau des Reiches Gottes. Und wenn ich an Gottes Thron stehen darf, dann werde ich auch dort helfen am Aufbau des Reiches Gottes in unserem lieben Vaterland und besonders in unserer Diözese.“

Am 22. Juni 1942 festgenommen und gemeinsam mit den an der Lübecker Herz-Jesu-Kirche in der Seelsorge tätigen Kaplänen Johannes Prassek (* 13.8. 1911 in Hamburg) und Hermann Lange (* 16.4. 1912 in Leer / Ostfriesland) und Pastor Karl Friedrich Stellbrink zum Tode verurteilt. Der Prozess dauerte kaum zwei Tage (22./23. April). In der Anklage gegen die drei katholischen Geistlichen, die gemeinsam waren, hieß es: „Ihnen ist zur Last gelegt, seit 1940 oder Anfang 1941 ständig deutschsprachige Sendungen des feindlichen Rundfunks abgehört und verbreitet und dadurch die Feindpropaganda gefördert zu haben. Sie haben ferner seit Frühjahr oder Sommer 1941 auf Anordnung Ihrer vorgesetzten Kirchenbehörde regelmäßig Gruppenabende veranstaltet, die der religiösen Vertiefung der Teilnehmer dienen sollten und zu denen sich auf Einladung durch die Angeklagten überwiegend junge Männer einfanden, die zum Teil der Wehrmacht angehörten und die weitere Gäste einführten; sie sind weiter beschuldigt, auf diesen Gruppenabenden durch Hetze gegen den nationalsozialistischen Staat, und zwar auch durch Verteilung von Schriften, dem Kriegsfeind Vorschub geleistet und Vorbereitung zum Hochverrat begangen zu haben.“

Das Urteil des Volksgerichtshofes vom 23. April 1942 lautete: „Im Namen des deutschen Volkes ... Die Angeklagten haben jeder Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft begangen. Wer den Staat angreift, kämpft damit unmittelbar gegen die geschlossene und einige Gemeinschaft der Deutschen ... Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte und auch gänzlich unbelehrbare Hasser des nationalsozialistischen Staates. Für solche Verbrecher am Volksganzen wie die Angeklagten Prassek, Lange und Müller es sind, kann es nur die härteste Strafe geben, die das Gesetz zum Schutz des Volkes zulässt, die Todesstrafe!“

Eduard Lange wies im Prozess vor dem Volksgerichtshof alle Anschuldigungen von sich. Wahrscheinlich war er wirklich kaum an den Handlungen der anderen beteiligt. Nach der Urteilsverkündigung schrieb er: „So habe ich die Erwartung und Hoffnung, dass ich in keinem Stück werde zuschanden werden, sondern dass in allem Freimut, wie immer, auch jetzt Christus an meinem Leibe verherrlicht werde, sei es durch Leben, sei es durch Tod. Denn für mich ist das Leben Christus und das Sterben Gewinn.“ Das Gebet lautete: „Herr, hier sind meine Hände. Lege darauf, was du willst. Nimm hinweg, was du willst. Führe mich, wohin du willst. In allem geschehe dein Wille.“

Wenige Tage nach der Gerichtsverhandlung wurden die vier Verurteilten in das Zuchthaus Hamburg-Holstenglacis verlegt. Die letzten Monate verbrachten sie in Einzelhaft, durften aber Besuche (u.a. von ihrem Bischof Wilhelm Berning) empfangen. Am Mittag des 10. November 1943 erhielten die Häftlinge Nachricht, dass ihre Hinrichtung am gleichen Abend sein werde. Die Notiz lautete: „Heute 18 Uhr Urteilsvollstreckung: Tod durch Enthauptung“. Die Geistlichen schrieben Abschiedsbriefe, kurz vor 18 Uhr wurde die Häftlinge aus dem Gebet gerissen, und einer nach dem anderen gefesselt zum Schafott geführt und durch das Fallbeil hingerichtet. Im Abstand von drei Minuten sterben zuerst Eduard Müller (32), dann Hermann Lange (31), dann Johannes Prassek (31) und zuletzt Karl-Friedrich Stellbrink (49). Die Leichen von Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink wurden im Ohlsdorfer Krematorium eingeäschert.

Ehrungen: Am Gefängnis in Hamburg-Holstenglacis wurden Gedenktafeln für die vier Geistlichen angebracht und auf der Straße „Stolpersteine" gesetzt. In Bad Driburg gibt es seit 2009 einen „Eduard-Müller-Weg“, der vom Clemensheim hinauf zur Waldkapelle führt. Die clementinische Gemeinschaft hält das Andenken an ihren ehemaligen Schüler seit Jahrzehnten lebendig. Einen Eduard-Müller-Weg hat auch Lübeck-St.Lorenz, eine Eduard-Müller-Straße liegt in seiner Heimat Neumünster. In der Hamburger St. Ansgar-Gemeinde/Kleiner Michel wird die Erinnerung an die Märtyrer und Glaubenszeugen wachgehalten. Die Gefängniskirche in ihrer Hinrichtungsstätte erhielt im Gedenken an die vier Lübecker Geistlichen den Namen „Kapelle des 10. November“. Am 25. Juni 2011 fand in Lübeck die Seligsprechung der Lübecker Kapläne statt. Vor der katholischen St. Vicelin-Kirche im Bahnhofsviertel von Neumünster wurde 2005 ein Stolperstein für Eduard Müller verlegt. Dieser wurde jedoch im Oktober 2022 in einer Nacht stark beschädigt und unleserlich gemacht. Er wurde von der Stadt Neumünster jetzt neu eingesetzt und gesegnet. Mehr: Erzbistum Hamburg, Homepage Lübecker Märtyrer, Clementinum Paderborn

Lübecker Märtyrer: Vor 81 Jahren, am 10.11.1943, wurden die „Lübecker Märtyrer“ im Hamburger Gefängnis am Holstenglacis mit dem Fallbeil hingerichtet. Die vier Geistliche, die in Münster studiert hatten, stehen bis heute für eine Ökumene des Widerstandes im Nationalsozialismus. Die ab 1939 an der Lübecker Hauptkirche Herz Jesu tätigen drei Kapläne Hermann Lange, Johannes Prassek, Eduard Müller und der evangelische Pastor Karl-Friedrich Stellbrink kamen durch gezielte Denunziationen ins Visier der Gestapo, wurden verhaftet und durchlitten eine lange und qualvolle Haftzeit im Lübecker Gefängnis am Burgtor, später in Hamburg.

Als herausragende Figur der Gruppe gilt der 1911 in einfachen Verhältnissen in Hamburg-Barmbek geborene Johannes Prassek. Er legte am Hamburger Johanneum 1931 das Abitur ab und ging zum Theologiestudium an die Jesuiten-Hochschule Sankt-Georgen in Frankfurt am Main. 1933 wechselte er nach Münster, 1935 ins Priesterseminar nach Osnabrück. Nach der Priesterweihe am 13. März 1937 im Dom zu Osnabrück und einer Vikarstelle im mecklenburgischen Wittenburg kam er 1939 an die Lübecker Pfarrei Herz-Jesu, wo er schnell einen guten Ruf als Prediger bekam. In Gesprächskreisen, insbesondere mit Soldaten, sprach er offen über den Nationalsozialismus, kirchenfeindliche Politik des Regimes, Krieg und Verhalten der Machthaber. Prassek lernte Polnisch für die verbotene Seelsorge an Zwangsarbeitern. Mit dem 17 Jahre älteren evangelischen Pastor Karl-Friedrich Stellbrink tauschte er ab Sommer 1941 Informationen über „feindliche“ Rundfunksender und verteilte Flugschriften – u.a. von Clemens August von Galen, Bischof von Münster. Ein Spitzel zeigte Prassek an, er kam am 18. Mai 1942 in das Marstall-Gefängnis des Burgkloster-Gebäudes und wartete mit Stellbrink und den ebenfalls verhafteten Kaplänen Hermann Lange und Eduard Müller über ein Jahr lang auf den Prozess, für den eine eigener Sonderkammer des sog. „Volksgerichtshofs“ zusammengestellt wurde. Aus seiner Gefangenschaft sind zahlreiche Briefe erhalten.

Schon lange vor Prozessbeginn stand ihr unter Ausschluss der Öffentlichkeit am 24. Juni 1943 gefälltes Todesurteil wegen „Vorbereitung zum Hochverrat, Rundfunkverbrechen, Zersetzung der Wehrkraft und landesverräterischer Feindbegünstigung“ fest. Hitler selbst hatte sich in den Prozess eingeschaltet und jedwede Rechtsmittel untersagt. Am Mittag des 10. Novembers erfuhren die Lübecker Märtyrer im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis von der Vollstreckung des Todesurteils um 18 Uhr. Interventionen und ein Gnadengesuch des Osnabrücker Bischofs Wilhelm Berning (1877–1955) beim Justizminister und beim Vizepräsidenten des Volksgerichtshofs waren erfolglos. Die vier Geistlichen starben im Abstand von vier Minuten durch das Fallbeil.

Das 2004 im Erzbistum Hamburg begonnene Seligsprechungsverfahren für die drei Kapläne Prassek, Müller und Lange wurde 2010 in Rom abgeschlossen, am 25. Juni 2011 wurden sie vor ihrem Wirkungsort, der katholischen Propsteikirche Herz Jesu in der Lübecker Altstadt, seliggesprochen, Pastor Stellbrink wurde dabei ehrenvoll erwähnt. Sie gelten in ihrem gemeinsamen Zeugnis für ihren Glauben als Beispiel wirklicher Ökumene.

Mehr: Die Internetseite www.luebeckermaertyrer.de versammelt Porträts der vier Geistlichen, ihre Abschiedsbriefe, eine Dokumentation der Seligsprechung, Texte, Predigten, Gedenkorte und Termine sowie Quellen zur tiefergehenden Information. Mehr auch auf Facebook: http://www.facebook.com/luebeckermaertyrer. Veröffentlichung: Peter Voswinckel, Geführte Wege, Die Lübecker

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