Wenn der Krebs zu Hause einzieht
Mittwoch, 14.09.2022
Bei einer Krebs-Erkrankung gerät der familiäre Alltag schnell aus den Fugen. Das von der Aktion Lichtblicke unterstützte Caritas-Projekt „nena" (nicht einsam, nicht allein)bietet Kindern und deren Eltern Unterstützung in diesen schweren Lebenslagen.
INFO: Münster (cpm). „Es ging sofort um Leben und Tod“, erinnert sich Maria Brandt an den Moment, als ihr Mann Andrea Bizzotto 2016 die Diagnose Krebs bekam. Wegen eines geschwollenen Knies war er zum Arzt gegangen. Die damals 32-Jährige hatte ihren Mann als Übersetzerin begleitet. Denn Andrea war gerade aus Italien nach Deutschland gekommen, um das Eismachen zu lernen – worüber Maria Brandt heute noch lachen muss. „Bei der Diagnose Synovialsarkom wussten wir, dass die Überlebenschance sehr gering sein wird“, berichtet sie den sieben Familienpflegerinnen, die an der Schulungsreihe des Projektes „nicht einsam, nicht allein“ (nena) im Diözesancaritasverband in Münster teilnehmen. „Ich war damals im fünften Monat schwanger.“ Aus einer vorherigen Beziehung hatte sie bereits ihren Sohn Fynn. Ab dem Tag habe sich selbstverständlich alles um Andrea gedreht. Maria Brandt macht in ihrem Vortrag deutlich, warum die Angehörigen nicht vergessen werden dürfen, „denn der Krebs verändert alle“.
„Als der Krebs bei uns einzog, war der komplette Alltag auf den Kopf gestellt“, sagt die 38-Jährige. „Es hätte geholfen, wenn jemand in unsere Familie gekommen wäre, die unterschiedlichen Bedürfnisse wertfrei wahrgenommen und koordiniert hätte.“ Das seien ganz simple Dinge, wie einen Zahnarzttermin für das Kind zu vereinbaren und sich in die Telefonwarteschleife beim Arzt zu begeben. Oder zu gucken: Für die Schule muss etwas besorgt werden, wer kann das aus dem Freundeskreis übernehmen. „Wir haben ganz viele Leute in unserem Leben gehabt, die uns unterstützt haben, aber auch die wollen koordiniert werden, auch die müssen angerufen und erreicht werden. Dafür geht wahnsinnig viel Zeit drauf.“ Auch, wenn es Unterstützungsangebote gebe, müssten diese organisiert und vor allem beantragt werden. „Hilfe ist in solchen Situationen nicht barrierefrei“, weiß Maria Brandt. „So wie eine Hebamme vor und nach der Geburt in die Familie kommt, muss es so eine Betreuung auch für Krebs-Familien geben. Wo einfach geguckt wird, wie entwickeln sich alle, was brauchen alle und wie kann man das organisieren und koordinieren.“ Diese Hilfe müsse auch über den Tod des Elternteils hinaus gehen.
Genau hier setzt das Projekt nena an, erklärt Projektleiterin Hanna Muesmann vom Diözesancaritasverband Münster: „Wenn ein Elternteil unheilbar erkrankt, dann gerät der familiäre Alltag aus den Fugen.“ Das Projekt nena bietet Kindern und deren Eltern Unterstützung in diesen schweren Lebenslagen: „Damit die Kinder aufgefangen werden, etwas mehr Zeit für die Eltern bleibt oder auch unbeschwerte Stunden für die Familie möglich sind.“ Ein Baustein des Projektes sei die Schulungsreihe für die Familienpflegerinnen, „damit sie für die Einsätze bei den Familien bestmöglich vorbereitet sind“. Zusammen mit den Familienpflegen örtlicher Caritasverbände hat Hanna Muesmann das Fortbildungskonzept mit dem Ziel entwickelt, es auf alle Dienste im Bistum zu übertragen. Außer der Aktion Lichtblicke, die den größten Teil der Finanzierung übernommen hat, unterstützen auch die Darlehnskasse Münster und die Caritas-GemeinschaftsStiftung das Projekt nena. Familienpflegerin Ulla Levejohann hat sich für die Fortbildung angemeldet, da sie eine Familie begleitet hat, in der die Mutter an Krebs gestorben ist. „Ich hätte mir gewünscht, dass ich das Wissen, das ich durch die Fortbildung erworben habe, damals schon gehabt hätte“, sagt Ulla Levejohann. Nach dem Bericht von Maria Brandt sei ihr noch einmal sehr bewusst geworden, „dass man einfach weiterleben muss während so einer schwierigen Situation und dass man als Familienpflegerin vielleicht auch ein bisschen Leben in die Familie bringen kann“.
Andrea Bizzotto ist 2019 gestorben. Seine Tochter Giulia ist heute fünf Jahre alt. Andrea konnte nicht miterleben, wie sie aufwächst. Er wollte Giulia etwas Bleibendes hinterlassen und hat im Krankenbett seine Lebensgeschichte in sein Handy getippt: Die Geschichte vom Tollpatsch auf dem Fahrrad. Maria Brandt arbeitet heute bei der Deutschen Sarkom-Stiftung und hat sich die Begleitung von Krebs-Familien zur Lebensaufgabe gemacht. Auch sie hat ein sehr ehrliches, humorvolles und bewegendes Buch geschrieben über die dunklen Seiten der Krankheit, die Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern und darüber, wie sie sich gemeinsam auf den nahenden Abschied vorbereitet haben: „Die Antwort ist Liebe.“ (Caroline Kronenburg)
Projekt nena – nicht einsam nicht allein: Medizinische Betreuung und Pflege sind gut organisiert, wenn Mutter oder Vater schwer, möglicherweise sogar lebensbedrohlich erkrankt sind. Aber wer fängt die Sorgen und Ängste der Kinder auf? Um diese Lücke zu schließen, will das Caritas-Projekt „nena“ (nicht einsam nicht allein) - die Familienpflege weiterentwickeln. Das zum Jahresbeginn 2022 begonnene und auf zwei Jahre angelegte Projekt will Mitarbeiterinnen in der Familienpflege auf die Anforderungen in diesen speziellen Familiensituationen vorbereiten und weiterqualifizieren. Da es nicht reicht, dass die Familienpflegerin den Haushalt aufrechterhält und die Kinder nur betreut, soll die Begleitung der Familie zu einem frühen Zeitpunkt beginnt und gegebenenfalls über den Tod eines Elternteils hinaus in der Trauerphase fortgeführt werden. Das Projekt nena wird vor allem durch die Aktion Lichtblicke gefördert. Weitere Teile der Finanzierung haben die Caritas-GemeinschaftsStiftung für das Bistum Münster und die Darlehnskasse Münster.
Unsere Gesprächspartnerinnen: Hanna Muesmann, Projektleiterin beim Caritasverband im Bistum Münster; Familienpflegerin Ulla Levejohann, Kontakt: Hanna Muesmann, Tel. 0251 8901-361, E-Mail: Muesmann@caritas-muenster.de, Internet: https://www.caritas-muenster.de/aktuelles/projekte/projekt-nena/projekt-nena